Vorwort
Die Konzeption des Buchprojekts erlaubte Roth-Reinecke eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem eigenen Schaffen, das den Bogen von ihren frühesten Arbeiten der 1970er Jahre bis hin zu erst kürzlich entstandenen Arbeiten aufspannt. Nach ihrem Fotografiestudium an den Kölner Werkschulen, das sie 1983 als Meisterschülerin bei Professor Arno Jansen abschloss, arbeitete sie als freischaffende Fotografin. Ihre Arbeiten erstrecken sich nicht nur auf Landschafts-, Architektur- und Stillebenfotografie, sondern umfassen auch Mode- und Reisefotografie. Viele ihrer Werke waren in Gruppen- und Einzelausstellungen im In- und Ausland zu sehen oder wurden in Kalender- und Buchpublikationen veröffentlicht. Auch in ihren kommerziellen Arbeiten, die für sie niemals nur ‚Handwerk‘ waren, vermittelt sich eindrücklich der künstlerische Anspruch an die eigene Tätigkeit.
In ihrer Arbeit mit der Kamera spielt das schnelle Erfassen und ‚Einfangen‘ von Situationen eine ebenso bedeutsame Rolle wie die konzentrierte Aufmerksamkeit, das beobachtende Stillhalten und geduldige Warten auf den einzigartigen, richtigen Augenblick. Beide Elemente sind für die Künstlerin immanente Bestandteile ihrer Arbeit. Andere Arbeitsschritte in der Auseinandersetzung mit den Bildern sind hingegen seit der Einführung der Digitalfotografie in den Hintergrund gerückt: Da sich der Arbeitsplatz der Bildentwicklung und -bearbeitung von der Dunkelkammer an den Laptop verlagert hat, fallen heute ganze Arbeitsprozesse einfach weg. Das vorliegende Fotobuch ermöglicht in diesem Sinne nicht zuletzt eine Rückführung der digitalen Fotodateien, die sonst kaum wirklich greifbar und weltentrückt auf dem Computerbildschirm aufscheinen, in eine haptische Form. Insofern umschreibt die Fotografin mit dieser Werkschau gewissermaßen die eigene fotografische Lebensgeschichte durch die sinnliche Erfahrung des Blätterns in einem Buch.
Aus Tausenden von Fotografien und Serien, die sie im Laufe der Zeit mit der Kamera festgehalten hat, ist – in einem nicht immer einfachen Auswahlprozess – dieses Lieblingsbuch entstanden, das in vielen Einzelbildern von vielschichtigen Augenblicken und einzigartigen Momentaufnahmen im Strom der Zeit erzählt. Auch die Wahl des Papiers, die Entscheidung über das Format, Überlegungen zur Grafik, zur Bindung oder zur Gestaltung des Buchumschlags waren Teil eines künstlerischen Schaffensprozesses. In diesem Sinne lässt sich das Fotobuch als eine eigenständige Kunstform verstehen, die durch lineare Aneinanderreihung von Motiven kleine Geschichten aus dem Œuvre Roth-Reineckes erzählt. Die Reihenfolge der Aufnahmen im Buch geht nicht nur auf Überlegungen zur Harmonie der Bildmotive zurück, sondern folgt auch formalen Kriterien der Zusammengehörigkeit: Während einige Fotografien die Themen ihrer Vorgänger aufnehmen und weiterführen, ergibt sich an anderer Stelle die Reihenfolge aus den Ähnlichkeiten der Stofflichkeit, der Unschärfen oder der Farbgebung. Zum Teil folgen die Bilder über mehrere Seiten hinweg ähnlichen Stimmungen, Themen, Strukturen oder Mustern: So finden sich etwa auf einer Doppelseite in der Mitte des Buchs die Längsstreifen der Falten in den Stoffen der Kleider (Kleid und Theresa, beide Köln 1999) als Strukturen wieder in der Musterung des großen Pflanzenblatts auf der nächsten Seite (Flora, Köln 1981). Die folgende Abbildung greift mit der schwangeren Frau mit Katze (Maya, Köln 1987) die Stofflichkeit im Kleid erneut auf und entspricht auch in ihrer klaren Formensprache der vorherigen Aufnahmen. Die Überleitung zu den folgenden Abbildungen gelingt sowohl motivisch über die Mutter-Kind-Thematik (Angela und Rosa, Köln 2004) als auch über die ruhige, geborgene Atmosphäre der Bilder. Nicht zuletzt schafft die erneute Hervorhebung der Stofflichkeit durch den eigentümlichen, blätterartigen Schattenwurf in der Aufnahme der Mutter mit Tochter (Katja und Luise, Köln 2004) einen harmonischen Rahmen, der seinen Abschluss in der schlafenden Katze findet, die von einem Pflanzenblatt behütet auf dem Regal liegt (Titus, Köln 1982).
Auf diese Weise werden während des Blätterns durch die Buchseiten Bildzusammenhänge offenbar, Verknüpfungen vermitteln sich und es ergeben sich Geschichten und Stimmungsbilder aus den Serien der Aufnahmen heraus. Dazwischen dienen die Leerseiten als bewusst gesetzte Markierungen für Brüche, Neuanfänge oder Themenwechsel. Die Zusammengehörigkeit der Bilderpaare auf den Doppelseiten manifestiert sich in der Übereinstimmung ihrer Motive, ihrer Farbigkeit, ihrer Komposition, ihrer Bildausschnitte oder in der vermittelten Atmosphäre. Einige Fotografien stammen erkennbar aus themenbezogenen Serien, sind also Teil eines größeren Ganzen. In anderen Fällen korrespondieren die Abbildungen auf den Doppelseiten trotz völlig unterschiedlicher Entstehungszeiten oder -orte nicht nur über die Harmonie ihrer Motive, sondern bisweilen auch über ihr eigenartiges Spannungsverhältnis zwischen Gleichklang und Verschiedenheit.
Entscheidende Grundbausteine für die Arbeit von Roth-Reinecke sind Licht und Schatten. Grazile Lichtreflexionen, geheimnisvolle Schattenwürfe und experimentelle Belichtungseinstellungen sind ein Leitmotiv, das sich durch das Buch zieht. Statt eine Szenerie mit Kunstlicht auszugestalten, empfindet es die Fotografin stets als reizvoller, sich auf die vorgefundene Lichtsituation einzulassen und sich dem Nicht-Kontrollierbaren zu stellen. Inhaltlich spielen die Fotografien häufig mit der Vereinigung von Gegensätzen: alt und neu, weich und fest, drinnen und draußen, sichtbar und versteckt, beweglich und starr. Beispielhaft für diesen Zugriff steht etwa das Bilderpaar einer Mauer, auf die das Schattenspiel der Blätter fällt (Mauer, Zons 2013): Die Mauer als feste, beständige und unnachgiebige Struktur wird von den Schatten der Blätter des neben ihr wachsenden Baumes bespielt, belebt, bewegt. Die Gegensätze bleiben bestehen und lösen sich gleichzeitig auf. Zeit ihres Lebens hat Roth-Reinecke diesem archaischen Dualismus im Bild nachgespürt.
Beim Blättern durch die Seiten fallen zudem wiederkehrende Motive auf: Innenräume, Lichtquellen und Lampen, Tische und Stühle, grazile Schattenwürfe, aber auch Nahaufnahmen von Stillleben oder die Gegenüberstellung von intimen und öffentlichen Räumen. Auch Fenster haben als Schnittstelle zwischen drinnen und draußen immer wieder das Interesse der Fotografin geweckt: Bereits der Auftakt des Buchs zeigt den Innenraum einer Reithalle mit großem Fenster, durch dessen einzelne Glasflächen das Licht einfällt (Reithalle, Bergisches Land, 2010). Trotz ihrer Transparenzs geben die Glasscheiben nur einen diffusen Blick auf das dahinter liegende Außengelände preis. In ihrer spannenden Doppelfunktion des Bewahrens und Zeigens stehen Fenster gewissermaßen stellvertretend für Roth-Reineckes Kerngedanken, dass erst das Geheimnis ein Bild wirklich spannend, nachhaltig faszinierend und reizvoll macht.
Ähnliche Themen und Motive werden im Buch auf unterschiedliche Art und Weise behandelt: So ist etwa auf einer Aufnahme ein Mann in unscharfen Umrissen vor einem Fenster im Gegenlicht zu sehen (Hüter, Como in Italien 2003). Er beobachtet die Szenerie und ist gleichzeitig Teil von ihr. Die Aufnahme unmittelbar daneben zeigt in ähnlichen Farben und ebenfalls unscharf ein Haus mit davor wachsenden Pflanzen (Haus, Kats in Holland 2006). An anderer Stelle ist das gleiche Thema ganz anders umgesetzt: Die Schwarzweißfotografie zeigt ein altes Efeu-bewachsenes Haus, im Türrahmen steht ein Mann und schaut hinaus (Falsterhus, Dänemark 1986). In beiden Fällen erfährt man nichts über die Protagonisten. Beide Szenen bestehen aus denselben Komponenten, ein Mann, ein Haus, ein Blick, und doch sind sie in der fotografischen Umsetzung völlig unterschiedlich angelegt. Solche Berührungspunkte und Interaktionen der Fotografien lassen sich vielleicht erst nach einigem Blättern und auf den zweiten Blick entdecken – die offene Konzeption des Fotobuchs lässt viel Raum für die Phantasie der Leserinnen und Leser. Das Buch verzichtet demnach auch bewusst auf ausführliche Bildbeschreibungen oder Erklärungen, um den Raum für Entdeckungen zu eröffnen und um die Geheimnisse der Bilder zu wahren.
Das Buch verdankt seine Entstehung einer fruchtbaren Mischung aus Schaffenswillen und Schaffenskrise: Roth-Reineckes tiefe Überzeugung, dass das Wichtigste an einem Bild sein Geheimnis, sein Fragezeichen, seine Unwägbarkeit ist, steht nach eigenem Bekunden seit einiger Zeit im Konflikt mit ihrer in jahrzehntelanger Arbeit erworbenen Routine im Umgang mit der Kamera. So wie sich in ihren Fotografien stets mehr verbirgt als das, was auf den ersten Blick zu sehen ist, so gestaltet sich auch ihre Arbeitsweise im Idealfall immer als Kombination von Geplantem und Zufälligem. Die spannendsten Fotografien sind für sie stets diejenigen, die sich der Kontrolle ein Stück weit entziehen und so die Möglichkeit der Überraschung eröffnen.
In ihrer künstlerischen Arbeit markiert dieses Buch einen Wendepunkt. Man könnte sagen, dass mit seiner Fertigstellung eine Art Ruhe eingekehrt ist, ein Befriedigungs- und Friedensgefühl darüber, aus dem gesamten Œuvre eine Auswahl getroffen zu haben. Dadurch ist der Horizont offen geworden für eine Neuorientierung im künstlerischen Schaffen, welches nicht ausschließlich fotografisch geprägt sein wird. Der Titel des Buchs lässt erahnen, welchen Stellenwert die Künstlerin den hier versammelten Fotografien in ihrer Rückschau auf das eigene Werk einräumt.
Nora Probst